#2 Soziales Netz
Das Sozialwesen zählt zu den gewichtigen Kapiteln des Landeshaushaltes, da es eine Vielzahl an Bereichen und Tätigkeiten abdeckt.

Luca Critelli, Direktor des Ressorts Familie, Senioren Soziales und Wohnbau des Landes Südtirol, beschreibt in einem Interview die aktuelle Lage und anstehende Herausforderungen.

 

Wie entwickeln sich die Ausgaben des Sozialwesens und welche sind die Trends in diesem delikaten Bereich?

In Südtirol lagen die Ausgaben für das Sozialwesen 2017 bei 474,3 Millionen Euro. Den höchsten Anteil daran, nämlich 213,5 Millionen Euro, nahm die Pflege von pflegebedürftigen Menschen in Anspruch. Dieser Betrag wächst aufgrund der demografischen Entwicklung um drei bis vier Millionen jedes Jahr. Eine kritische Phase wird für die Jahre 2030-35 erwartet. Dann kommen nämlich die sogenannten Babyboomer ins kritische Alter von mehr als 83 Jahren, ab dem sie statistisch gesehen häufiger pflegebedürftig werden.

Ein anderer Bereich, in dem Dienste und Leistungen zunehmen, ist jener der Menschen mit Behinderung. Während es mehr als begrüßenswert ist, dass die Lebensdauer dieser Menschen wächst, lässt dies auch den Aufwand für ihre Betreuung deutlich ansteigen. Menschen mit Behinderung wurden früher oft nicht älter als 40 bis 45 Jahre alt, während sie heute zum Glück deutlich länger leben. Und sie werden nach wie vor vorrangig in ihren Familien betreut; mit zunehmenden Alter fallen die Familien allerdings häufig aus. Dann werden geeignete Einrichtungen oder andere Fördermaßnahmen notwendig.

Einen beachtlichen Bedarf an Mittel hat auch der Bereich Jugendschutz: Sozialpädagogisch betreut werden etwa Jugendliche, die Probleme mit der Justiz oder mit Drogen haben. Aber auch die Instabilität der heutigen Familien erhöht merklich die Notwendigkeit für Familienberatung und psychologische Leistungen. Zu bedenken ist, dass inzwischen 30 bis 40 Prozent der Ehen in eine Trennung und schließlich in eine Scheidung münden.

Es gilt, zudem jene Probleme zu lösen, die in Zusammenhang mit der Migration entstehen: Menschen ohne Dach über dem Kopf, für die eine Reihe von Leistungen zu erbringen sind. Wenngleich zu betonen ist, dass dieser Posten nur fünf Prozent der Mittel für das Sozialwesen beansprucht. Und schließlich ist die Armut zu bekämpfen – selbst Südtirol ist davor nicht gefeit.

 

Weil Sie das Problem ansprechen: Wie viele Personen sind in Südtirol von Armut betroffen?

Zunächst möchte ich zu bedenken geben, dass es zwei Formen der Armut gibt: die absolute Armut, bei der den Betroffenen das Mindeste zum Leben fehlt. Es handelt sich um Obdachlose, häufig haben diese einen Migrationshintergrund. Von relativer Armut spricht man, wenn eine Einzelperson weniger verdient als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens anderer Mitglieder derselben Bevölkerungsgruppe. Zu den Personen, die in relativer Armut leben, zählen etwa solche mit einer geringen Rente, Arbeitslose, Großfamilien. Ein weiteres Phänomen ist jenes der sogenannten working poor: Dabei handelt es sich um schlecht bezahlte Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen und schwacher Qualifikation, die Schwierigkeiten haben, die notwendigsten Ausgaben für ein Leben in Würde zu schultern. Diese Verhältnisse machen es auch äußerst schwierig, Geld für mögliche außerordentliche Spesen auf die Seite zu legen. Diese Personen haben daher nur geringe Möglichkeiten, am Lebensstandard teilzuhaben, der unsere Gesellschaft ausmacht. In dieser Risikogruppe finden sich Menschen mit psychischen oder gesundheitlichen Problemen, Abhängigkeiten oder einer Migrationsvergangenheit, aber auch Geschiedene und Alleinerziehende.

Was unternimmt das Land Südtirol, um die Armut einzudämmen?

Das Land handelt auf zwei Ebenen: Auf der einen Seite versucht es, die Gründe für die Armut zu bekämpfen, indem es der Arbeitslosigkeit entgegenwirkt – etwa über Bildung oder berufliche Weiterbildung. Auch der geförderte Wohnbau ist diesbezüglich eine nützliche Maßnahme. Auf der anderen Seite stellt das Land eine gezielte Förderung im Falle von Notsituationen bereit, sowohl in direkter Form als auch über Organisationen und Vereine, die vom Land finanziert werden, um diese Menschen in Not professionell zu begleiten. Um deren Grundbedürfnisse abzudecken, machen die Zuständigen etwa Wohnraum oder eine provisorische Unterbringung sowie eine Ausspeisung für Obdachlose ausfindig. Oder sie stellen Lebensmittel und Bekleidung zur Verfügung bis hin zu finanziellen Zuwendungen, die der Landesbetrieb für Sozialdienste auszahlt. Dazu zählt der Posten des sozialen Mindesteinkommens, über den 2017 insgesamt acht Millionen Euro an 3300 betroffene Einzelpersonen oder Familien ausgezahlt wurden. Die Gesamtausgabe für das soziale Mindesteinkommen hängt stark von der Konjunktur ab. Während diese zwischen 2008 und 2011 wegen der Wirtschaftskrise und den einhergehenden Betriebsschließungen stark stieg, blieben die Kosten in den Folgejahren in etwa stabil. Mit dem aktuellen Aufschwung sind diese Ausgaben wieder stark gesunken.

Ein Viertel der Bezugsberechtigten des sozialen Mindesteinkommens steht in einem Arbeitsverhältnis, das wegen ihres schwachen Profils nur ein geringes Einkommen abwirft. Aufgrund der hohen Lebenskosten im Lande schaffen es diese Personen nicht, mit diesem Einkommen über die Runden zu kommen. Zu den weiteren Begünstigten des Mindesteinkommens zählen Arbeitslose, auch ehemals Selbstständige, Suchtkranke oder psychisch Beeinträchtigte.

Dank der Maßnahmen der Sozialdienste ist laut einer Studie des Landesstatistikinstituts ASTAT die Anzahl der Familien, die in einer Situation von Armutsrisiko stehen, um 8,1 Prozentpunkte gesunken, und zwar von 24,7 auf 16,6 Prozent.

„Wir werden bei der Ausbildung der Fachkräfte an den Schrauben drehen müssen!“ Luca Critelli

Ist das Mindesteinkommen also die Lösung oder doch das staatliche Bürgereinkommen?

Der „reddito di cittadinanza“, also das staatliche Bürgereinkommen, soll es den Menschen ermöglichen, für das Nötigste aufzukommen, welches in Südtirol aber schon vom bisherigen sozialen Grundeinkommen des Landes geleistet wird. Auch ist das System des Mindesteinkommens des Landes, das aus den 70er-Jahren stammt, bedeutend einfacher in Bezug auf die zu beachtenden Regeln als das System rund um die staatliche Mindestsicherung. Außerdem gewährleistet das Mindesteinkommen des Landes eine bessere Unterstützung.

 

Welche Herausforderungen stehen dem Sozialwesen künftig bevor?

Allem voran heißt es nun, eine Strategie für ein System zu entwickeln, das wir zeitnah und flexibel an die Bedürfnisse des Momentes anpassen können. In allen Bereichen sollten wir die Art der Leistungen ausbauen. So könnten nämlich die Maßnahmen zielgerichteter und auch weniger kostenintensiv werden – im Gegensatz dazu, wie es aktuell der Fall ist. Sehr wichtig finde ich es, noch mehr auf die Vorbeugung eines Phänomens zu achten. Vor 30 Jahren etwa wurden die alten Menschen in ihren Familien, von einer Hauspflegekraft oder in den Altenheimen versorgt. Heute gibt es mehr Möglichkeiten: Sie reichen von den privaten Haushaltshilfen, den sogenannten Badanti, der Tagespflege, das begleitete und das betreute Wohnen, die Hauspflege bis hin zum Seniorenwohnheim.

Dasselbe gilt für die Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigung: Auch hier gibt es heute mehr Optionen: Jenseits der Familie, des Heimes und der Behindertenwerkstätte sind behinderte Personen heute auch als Arbeitskräfte in Unternehmen integriert.

Eine weitere Herausforderung liegt in der Personalsuche. Heute ist es nicht nur in Bozen schwierig, Fachkräfte für die sozialen Dienste zu finden, auch in den Tälern Südtirols ist das zunehmend so. Hier stellt sich sicherlich auch die Frage der Entlohnung. Hinzu kommt, dass Nachbarländer wie die Schweiz und Deutschland mit uns im Wettbewerb um diese Fachkräfte stehen. Sicher: Wir holen unsererseits Mitarbeiter aus anderen Regionen nach Südtirol, haben aber dann das Problem, dass diese oft nicht zweisprachig sind.

Wir werden bei der Ausbildung der Fachkräfte an den Schrauben drehen müssen! Personen im Alter zwischen 30 und 40 Jahren, die es nach einer Reihe von Berufserfahrungen in Erwägung ziehen, in die Welt der Pflege und Betreuung zu wechseln – das ist die Zielgruppe, die wir im Auge haben. Auch sollten wir dafür sorgen, dass es für Frauen mehr diesbezügliche Arbeitsmöglichkeiten in der Nähe des jeweiligen Wohnsitzes gibt, damit sie leichter einer Tätigkeit im Sozialwesen nachgehen können. Schließlich sind sie es, die hier 85 Prozent der Beschäftigten ausmachen.

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