#2 Soziales Netz
Der demografische Wandel stellt neue Herausforderungen an Politik, Wirtschaft und Verwaltung. Wie bereitet sich Südtirol darauf vor?

Was haben Projekte wie der Ausbau des ultraschnellen Internets mit der Rückwerbung abgewanderter Talente gemeinsam? Oder die Infokampagne „Helden fürs Leben“ für angehende Pflegekräfte mit der Unterstützung neuer Wohnformen wie das Cohousing? Alle diese und zahlreiche weitere Vorhaben können einem großen Dachthema zugeordnet werden, das auch in Südtirol wahrgenommen wird. Unsere Gesellschaft verändert sich, dies zeigen nicht nur die Zahlen der Infografiken, sondern auch ein Blick in die Dörfer und Städte Südtirols. Im Fachjargon spricht man von demografischem Wandel, einer strukturellen Veränderung in der Zusammensetzung der Bevölkerung. Dies betrifft vor allem die Altersstruktur, die Anzahl der Geburten und der Sterbefälle sowie die Wanderungsbewegungen sowohl aus dem Ausland, als auch ins Ausland. In Mitteleuropa lässt sich seit Anfang der 1970er Jahre feststellen, dass weniger Kinder geboren werden und gleichzeitig weniger Menschen sterben. Die Zuwanderung trägt dazu bei, dass die Bevölkerungszahl nicht sinkt. Wenn die Geburtenraten niedriger als die Sterberaten sind (dies war 2017 unter anderen in Italien, Deutschland oder Spanien der Fall), nimmt der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung automatisch zu. Die Gesellschaft verändert sich, die Auswirkungen davon sind vielfältig und betreffen zahlreiche Bereiche des täglichen Lebens.

Bis 2030 wird die Generation 65+ mehr als ein Viertel der Bevölkerung umfassen.

Auch für Südtirol verrät ein Blick in die Zeitreihen der Sterbe- und Geburtenraten, dass wir uns im Wandel befinden. In der Altersstruktur wachsen die Altersgruppen der Älteren – so lag das Durchschnittsalter Ende 2013 bei 41,8 Jahren, Ende 2017 bereits bei 42,6 Jahren. Vor 20 Jahren war das Durchschnittsalter noch um ganze vier Jahre niedriger. Miteingerechnet sind auch die ausländischen Mitbürger, deren Anteil 2017 bei 9,1 Prozent liegt. In Südtirol lebende Ausländer sind im Schnitt 35,2 Jahre alt, mehrheitlich weiblichen Geschlechts und kommen überwiegend aus Albanien, Deutschland, Marokko oder Pakistan. Ausländische Staatsbürger tragen auch in Südtirol dazu bei, das Durchschnittsalter der Gesamtbevölkerung zu senken. Statistisch betrachtet standen im Jahr 2017 100 Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren insgesamt 122,7 Menschen über 65 Jahren gegenüber.

(Quelle: ASTAT)
(Quelle: ASTAT)

Dieses Älterwerden verlangt nach neuen Maßnahmen und Strategien von Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Als mittelfristige Perspektive für ältere Menschen könnten beispielsweise die Möglichkeiten des autonomen Fahrens interessant sein. Dies käme sowohl der Verkehrssicherheit, aber auch der Lebensqualität von Senioren vor allem in entlegenen, ländlichen Gebieten zugute. Ebenso kann sich die Digitalisierung in anderen Lebensbereichen positiv auswirken, auch auf ältere Menschen. Durch altersgerechte Assistenzsysteme (AAL) wird das selbstständige, autonome Wohnen in den eigenen vier Wänden bis ins hohe Alter befördert, ebenso erfährt der private und öffentliche Pflegebereich durch technische Hilfsmittel eine wichtige Unterstützung.

Auch der Arbeitsmarkt muss der demografischen Entwicklung Rechnung tragen. Individuelle Teilzeitmodelle und Vorruhestandsregelungen für ältere Arbeitnehmende, ebenso wie flexible Arbeitszeiten und Smart Working für jüngere Angestellte stehen dabei zur Diskussion. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die eine lebensphasenorientierte Arbeitszeitgestaltung ermöglichen, sind dabei eindeutig im Vorteil, wenn es darum geht, gut ausgebildete und motivierte Mitarbeiterende auf einem immer weniger prall gefüllten Arbeitskräftemarkt für sich zu gewinnen.

“Der demografische Wandel ist eine Herausforderung und zugleich eine Chance, die wir ergreifen und bestmöglich nutzen müssen.“ Waltraud Deeg

Innerhalb der Südtiroler Landesverwaltung kommen unterschiedliche flexible Arbeitsmodelle bereits zur Anwendung. Seit zehn Jahren besteht die Möglichkeit der Telearbeit (d.h. die örtliche Verlegung des Arbeitsplatzes an den Wohnort des Angestellten), in manchen Bereichen teilen sich zwei Teilzeitkräfte eine Arbeitsstelle und betreiben damit Job Sharing. Im Vorjahr wurde zudem beschlossen, Möglichkeiten des Smart Workings, verstanden als ortsunabhängiges, dezentrales und flexibles Arbeiten, auszuloten und die (rechtlichen und technischen) Voraussetzungen dafür zu schaffen. „Smart Working bietet viele Chancen, etwa für berufstätige Eltern oder für Pendler“, betont Landesrätin Waltraud Deeg, die bis Jänner 2019 für die Bereiche Personal und Informatik zuständig war und nun die Agenden Soziales übernommen hat. Smart Working werde – ähnlich wie die Telearbeit – sicherlich nicht in allen Bereichen möglich sein. Als Arbeitgeber täte man jedoch gut daran, sich auf neue Arbeitsmodelle einzulassen: „Die Generation Z tickt anders als meine Generation oder die davor. Sie sucht neue Modelle. Und wenn wir da als Arbeitgeber nicht mithalten können, werden uns die Mitarbeiter abhandenkommen“, betont die Landesrätin. Jemand, der bereits im Berufsalttag Erfahrungen mit einem flexiblen Arbeitsmodell sammelt, ist Renate Mayr. Die Verwaltungsinspektorin koordiniert den Webauftritt des Landes Südtirol und erledigt einen Teil ihrer Arbeit autonom am heimischen PC. „Für meinen Aufgabenbereich ist meine Anwesenheit an meinem Arbeitssitz in Bozen nicht zwingend erforderlich. Durch die Telearbeit gewinne ich mehr Gestaltungsfreiraum, der jedoch nicht nur mir persönlich, sondern auch meinem Arbeitgeber viel bringt“, sagt Mayr. Zuhause sei es ihr möglich, Korrekturen und Kontrollen an den Webseiten ungestört und damit konzentrierter und schneller durchzuführen als im Büro. „Bei meiner Arbeit in Bozen nutze ich hingegen die Zeit für Arbeitsbesprechungen, denn es braucht immer auch den direkten Kontakt mit den Menschen“, betont Mayr.

"Durch die Telearbeit gewinne ich mehr Gestaltungsfreiraum, der jedoch nicht nur mir persönlich, sondern auch meinem Arbeitgeber viel bringt." Renate Mayr

Doch auch für andere Arbeitgeber mit weniger Angestellten lohnt es sich, auf die Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzugehen und nach neuen Modellen der Arbeitszeiteinteilung zu suchen. Dies hat die Raiffeisenkasse Überetsch gemacht, die im Rahmen des Zertifizierungsprozesses für das Audit familieundberuf nicht nur Aktionen zugunsten von Familien mit (kleinen) Kindern erarbeitet hat, sondern auch auf die veränderten Bedürfnisse der älteren Angestellte Rücksicht nimmt. Momentan halte sich die Nachfrage danach zwar noch in Grenzen, was sich aber mit den geltenden gesetzlichen Bestimmungen erklären lasse, sagt Eduard Huber, Direktor der Raiffeisenkasse Überetsch. Dennoch: Ein Mitarbeiter der 90-köpfigen Belegschaft habe das Angebot angenommen und arbeite seit einigen Monaten nur mehr in Teilzeit. „Wir sind offen für die Belange unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, betont Huber, der die bisherigen Erfahrungen im Rahmen des audit-Prozesses als durchwegs positiv beschreibt. Man wisse, dass man sich auf verdiente und gute Mitarbeiter verlassen könne, die Erfahrung, Kontinuität und Vertrauen vorweisen. Als Arbeitgeber sei man darum gerne bereit auf die persönlichen Bedürfnisse bestmöglich einzugehen und Ideen und Vorschläge der eigenen Angestellten aufzunehmen und umzusetzen. „Es geht uns um eine bestimmte Unternehmenskultur, um eine Wertehaltung, die von allen mitgetragen werden muss“, sagt Huber.

Der demografische Wandel ist ein Schnittstellenthema mit vielfältigen und überschneidenden Ausprägungen.

Der demografische Wandel kann nicht losgelöst von anderen Einflussfaktoren und Entwicklungen gesehen werden. Für Thomas Streifeneder, Wirtschaftsgeograph und Leiter des Institutes für Regionalentwicklung von Eurac Research, prägen die vielseitigen Wechselwirkungen der Wandelerscheinungen bei Klima, Technologie, Gesellschaft, Werten, Wirtschaft, Landschaft und Institutionen die demografische Entwicklung wesentlich. Es lasse sich zudem der Trend zu einer Gemeinwohlökonomie erkennen, bei der das Wohlbefinden der Gesellschaft als Ganzes, die Zusammenarbeit und das Gemeinwesen zentrale Werte und Entscheidungselemente für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft darstellen. „Viele junge Menschen, auch in Südtirol, können sich mit diesem Konzept identifizieren und suchen eine sinnstiftende Beschäftigung. Dies ist eine Chance, die es stärker zu nutzen gilt, vor allem wenn man bedenkt, dass künftig besonders im Bereich der Pflege Personal gesucht und der Bedarf ansteigen wird“, gibt Streifeneder zu bedenken. Eine deutliche finanzielle, aber auch die gesellschaftliche Aufwertung der Pflegeberufe sei daher ein dringliches Anliegen, das von den Entscheidungsträgern noch stärker als bisher anzugehen sei.

 

Anhand der Jugendstudie 2016 kann man feststellen, dass den Jugendlichen in Südtirol ein sicherer Arbeitsplatz wichtig ist. Doch den Lebenszielen „glücklich sein“ und „eine Familie gründen“ wird ein höherer Stellenwert beigemessen. Dies wiederum müsse sich auf die Arbeitswelt auswirken, meint Eurac-Forscher Streifeneder: „Immer mehr Menschen gehen in ihrer Freizeit sozialen und dem Gemeinwohl dienenden Beschäftigungen nach. Wenn Arbeitgeber dies unterstützen und gemeinsam mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern versuchen, Arbeitszeiten bestmöglich zu organisieren ist dies sowohl vertrauensbildend, als auch förderlich für die Motivation.“

 

In Südtirol sei das Bewusstsein für den demografischen Wandel vorhanden, sagt Streifeneder, der im Auftrag des Landes Südtirol und aufgrund eines Beschlussantrages des Südtiroler Landtages zehn Handlungsempfehlungen zum demografischen Wandel erarbeitet hat. „Allerdings gibt es noch viele interessante Bereiche, die mit einer angewandten Forschung wissenschaftlich untersucht werden können, um den Entscheidungsträgern zielführende Handlungsempfehlungen zu erarbeiten”, schlägt Thomas Streifeneder vor. Und es gebe auch noch einige Baustellen, die anzugehen seien. „Ein Ziel muss es sein, Südtirolerinnen und Südtiroler im eigenen Land zu halten. Das heißt: Es braucht attraktive Arbeitsplätze und einen leistbaren Wohnraum“, fasst Streifeneder zusammen. Hierzu gibt es bereits einige Pilotprojekte, wie beispielsweise jenes der „Plattform Land“. Darin haben sich Land Südtirol, Gemeindenverband, Bauernbund, Handelskammer Bozen, Hoteliers- und Gastwirteverband, Landesverband der Handwerker, Unternehmerverband, Vereinigung Südtiroler Freiberufler, Raiffeisenverband, KVW, Jugendring, Verband der Seniorenheime und Architektenkammer zusammengeschlossen, um gemeinsam Projekte und Strategien zum Erhalt der Lebensqualität in der Peripherie zu erarbeiten. Im Sommer 2017 wurde in diesem Rahmen das Projekt „Leerstandsmanagement“ in fünf Pilotgemeinden gestartet, bei dem nicht genutzte Wohnflächen erfasst werden und eine Neu- bzw. Wiederverwendung bestehender Bausubstanz erörtert wird.

Südtirols Gesellschaft wird immer älter, aber hält dennoch fit und bleibt agil.

Themen wie das leistbare Wohnen oder die Förderung von Arbeitszeitmodellen, die eine bessere Work-Life-Balance (also die Ausgewogenheit zwischen Arbeitsleben und Zeit für Familie und Freizeit) ermöglichen sollen, sind auch für die neue Landesregierung ein wichtiges Anliegen. „Bereits seit mehreren Jahren schaffen wir Rahmenbedingungen und arbeiten an konkreten Maßnahmen, um Verbesserungen zu erzielen“, erklärt Landesrätin Waltraud Deeg. Diesen Weg wolle man gemeinsam weiterbeschreiten und ausbauen. Als Beispiel nennt Deeg in diesem Zusammenhang die Unterstützung und Wertschätzung für Menschen, die andere Menschen, egal welchen Alters, pflegen. Pflegende – sowohl professionelle, als auch jene aus dem familiären Umfeld – sollten durch Ausgleichmaßnahmen unterstützt werden, um damit die Pflege als Ganzes aufzuwerten. Dieses Ziel findet sich auch in den zentralen Handlungsfeldern wieder, welche eine Expertengruppe aus Wissenschaft, Verwaltung und Sozialpartnern erarbeitet und im Juni 2018 vorgestellt hat. Darin wird der demografische Wandel als ein Schnittstellenthema bezeichnet. Im Sinne eines Mainstreamings sollte dieses in alle relevanten Ressorts integriert werden, weil die Ausprägungen des demografischen Wandels vielfältig und überschneidend seien. „Der demografische Wandel betrifft uns alle, zum Teil bereits heute und morgen sicher noch viel mehr. Das Bewusstsein dafür und die gute Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen Politik, Verwaltung, Bildung, Privatwirtschaft und Verbandswesen ist eine wichtige Basis dafür, dass Südtirol diese Herausforderung als Chance ergreift und sie bestmöglich nutzt“, ist Soziallandesrätin Waltraud Deeg überzeugt.

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10 Handlungsempfehlungen zum demografischen Wandel

Im Juni 2018 wurden zehn Handlungsempfehlungen zum demografischen Wandel in Bozen vorgestellt. Darin heißt es, dass mittels einer Demografiestrategie die Chancen der Bevölkerungsentwicklung genutzt und andererseits Handlungsfelder aufgezeigt werden könnten, die zentral für die politische Gestaltung des demografischen Wandels sind. Die zehn Handlungsempfehlungen sind:

Aufwertung und Bewerbung der Berufe im Sozial- und Gesundheitssektor
Forcierung des sozialen Ehrenamtes und der Innovation im Sozial- und Gesundheitssektor
Steigerung des Anteils Erwerbstätiger an der gesamten Bevölkerung
Aktive Anwerbung von Fachkräften und Schaffung von attraktiven Arbeitsbedingungen
Innovation und Digitalisierung als Chance nutzen
Nutzung von Potentialen durch die Verschiebung der Nachfrage
Ausbildung bedarfsgerecht gestalten und lebenslanges Lernen fördern
Offene Gesellschaft und Aufnahmekultur stärken
Leistbare, innovative Wohnformen ermöglichen
Mobilität für die Bevölkerung aller Altersstufen ermöglichen

Auf der Internetseite des Landes, die sich dem Thema Soziales (www.provinz.bz.it/soziales) widmet, kann unter dem Stichwort Demografischer Wandel das gesamte Dokument heruntergeladen werden.

 

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Beim Audit familieundberuf handelt es sich um eine Zertifizierung, die sich an die Vorgaben des „european work and familiy audit“ hält, einer Initiative der berufundfamilie Service GmbH. Dieses Managementinstrument richtet sich an Arbeitgeber, die mit ihren Mitarbeitenden Maßnahmen für eine familienbewusste, nachhaltige Personalpolitik umsetzen. Begleitet von einem/einer fachkundigen Auditor/Auditorin wird der aktuelle Stand erhoben, das Entwicklungspotential ermittelt und gemeinsam verpflichtende Maßnahmen für die kommenden drei Jahre erarbeitet. Die Zertifizierung beinhaltet eine jährliche Überprüfung der vereinbarten Ziele und Maßnahmen, die als Qualitätsnachweis der familienorientierten Personalpolitik gelten. Zertifizierte Arbeitgeber profitieren zum einen von einem motivierten, loyalen und einsatzbereiten Mitarbeiterteam, aber auch von einer gesteigerten Attraktivität am Arbeitskräftemarkt. Das Land Südtirol unterstützt auditierte Arbeitgeber mit unterschiedlichen Förderungen und Beiträgen.

Getragen wird das Audit familieundberuf in Südtirol von der Familienagentur des Landes und der Handelskammer Bozen. Weitere Informationen sind unter www.provinz.bz.it/audit zu finden.

 

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