Die Urteile des Verfassungsgerichts geben Einblick in die Entwicklung der Autonomie.

Die Autonomie ist nicht statisch. Sie entwickelt sich. Gesellschaft, technische und wirtschaftliche Entwicklung, Politik und Verwaltung tragen zur Veränderung bei. Immer wieder kommt es zwischen dem Land Südtirol und der Regierung in Rom zu Zuständigkeitskonflikten. Wird auf dem Verhandlungsweg keine Lösung gefunden, werden die Konflikte vom Verfassungsgerichtshof in Rom entschieden. 

Den Standpunkt des Landes hat dabei meist die langjährige Chefanwältin des Landes, Renate von Guggenberg, vor dem Verfassungsgericht vertreten. 40 Jahre war die Juristin im Landesdienst. Nach 15 Jahren an der Spitze des Zentralamtes für Rechtsangelegenheiten übernahm sie im Jahr 2000 die Leitung der gesamten Anwaltschaft.

LP hat Renate von Guggenberg, die ihren Dienst in Landesverwaltung Ende November 2021 beendet hat, gebeten Rückschau zu halten.

 

LP: Von den 50 Jahren Paket haben Sie 40 Jahre als Juristin und Anwältin im Landesdienst erlebt. Ist Südtirols Autonomie sicher?

 

Renate von Guggenberg: Derzeit ist in Italien leider eine klare Zentralisierungstendenz zu erkennen, die durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes unterstützt wird. Infolge der Verfassungsreform 2001 schreibt der Verfassungsgerichtshof insbesondere einer Reihe von ausschließlichen staatlichen Gesetzgebungszuständigkeiten „transversalen“ Charakter zu. Diese Querschnittkompetenzen brechen die Zuständigkeiten der Regionen und Autonomen Provinzen, da der staatliche Gesetzgeber praktisch in alle Sachgebiete von Landeszuständigkeit eingreifen kann, und der Verfassungsgerichtshof meist der staatlichen Regelung den Vorrang gibt. Oder er weitet die dem Staat zuerkannten ausschließlichen Gesetzgebungsbefugnisse zum Schaden unserer Autonomie aus.

Zur besseren Absicherung wäre eine Änderung des Autonomiestatuts notwendig, aber angesichts der derzeitigen politischen Situation ist es wohl kaum denkbar, eine Überarbeitung des Autonomiestatuts zu fordern.

In letzter Zeit haben Durchführungsbestimmungen statutarische Zuständigkeiten des Landes konsolidiert, und zwar das GvD Nr. 146/2016 in Sachen Handel und das GvD Nr. 162/2017 in Sachen öffentliche Aufträge, woraufhin die italienische Regierung auf zwei Rekurse in Sachen Handel verzichtet hat. Wenigstens ein kleiner Erfolg!

 

LP: Immer wieder gab es in den vergangenen Jahrzehnten Zuständigkeitskonflikte, die vor dem Verfassungsgericht ausgefochten wurden. Wie sieht die Bilanz aus?

 

Ja, es gibt mit ca. 600 Fällen wirklich viele Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof, wo es entweder um die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Staats- oder Landesgesetzen oder um Befugniskonflikte zwischen Staat und Land geht. Einige davon behängen noch. Die meisten Fälle gehen auf die Jahre nach der Genehmigung des zweiten Autonomiestatuts 1972 zurück und wurden meist vom Land eingeleitet. Die Zahl der Verfahren nach der Streitbeilegung 1992 und jene nach der Verfassungsreform 2001 halten sich die Waage. Auffallend ist jedoch, dass nach der Verfassungsreform fast die Hälfte aller Verfahren vom Staat eingeleitet wurde.

Eine numerische Bilanz zu ziehen ist äußerst schwierig, denn es kam oft vor, dass der Verfassungsgerichthof den Rekurs zwar abgelehnt, aber gleichzeitig festgestellt hat, dass die angefochtene staatliche Bestimmung in Südtirol gar keine Anwendung findet, was ja durchaus positiv ist. Alles in allem hat das Land jedoch mehr Fälle verloren als gewonnen. 

Ich möchte klarstellen, dass die Anwaltschaft erst gegen Ende 2012 regelmäßig die direkte Verteidigung des Landes vor dem Verfassungsgerichtshof übernommen hat. Bis dorthin hat es jahrzehntelang Prof. Roland Riz getan. Zudem ist es von jeher Aufgabe der Anwaltschaft, die Gesetze oder Maßnahmen, welche die Landeszuständigkeiten verletzen könnten, auszumachen und die für deren Anfechtung notwendigen Landesregierungsbeschlüsse, die klar begründet sein müssen, vorzubereiten.

 

LP: Wie hat sich das Verhältnis zu Rom und zum Verfassungsgericht in dieser Zeit verändert?

 

Auch wenn ich – bis auf ein paar Ausnahmen – nicht direkt in die Verhandlungen mit den römischen Stellen involviert war, habe ich den Eindruck, dass diese eher förmlich geworden sind. Oft wird das Land praktisch gezwungen, Landesgesetze entsprechend den Vorgaben der staatlichen Stellen abzuändern oder gar aufzuheben, um eine Anfechtung zu vermeiden. Trotzdem ficht die italienische Regierung in letzter Zeit immer wieder Landesgesetze an. Das Land hingegen muss mit der Anfechtung von staatlichen Bestimmungen eher vorsichtig umgehen, um das Risiko weiterer Einschränkungen seiner Zuständigkeiten durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu minimieren.

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